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Wo Münchens neues Konzerthaus wächst: Einblicke auf die Ausblicke des Werksviertels

Seit Jahren insistiert Mariss Jansons, Chefdirigent des wunderbaren Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (abgekürzt BRSO), es müsse endlich ein eigenes Zuhause für sein Orchester geben. Und es stimmt: Die Philharmonie im Gasteig, Heimat der Münchner Philharmoniker und somit des städtischen Orchesters, ist mit ihren 30 Jahren zwar fast noch jung zu nennen – die Akustik ließ jedoch schon immer wünschen übrig. Und das Sitzvergnügen … nun ja: auf vielen Plätzen sitzt man schräg verdreht und eine stundenlange Dauertorsion ist nicht wirklich etwas, das den Kunstgenuss erhöht. Ich kenne die meisten der Sitzplatzblocks: manche sind einfach nur zum Heulen schlecht, andere haben ihre Vorzüge – brillant für die Werke von Albinoni bis Zemlinsky ist vermutlich keiner.

Häufig ziemlich schräg: Die Philharmonie im Gasteig. ©casowi

Häufig ziemlich schräg: Die Philharmonie im Gasteig. ©casowi

Ein Hin und ein Her gab es also, das Thema wurde politisch und wirtschaftlich rauf- und runterdiskutiert. Es gibt Gegner, die einen weiteren Kulturtempel in München für reichlich überflüssig halten und die benötigten Gelder anderweitig investieren würden (ja – da gibt’s es sicherlich viele Ecken und Enden, die mal angepackt werden sollten!). Und es gibt die Befürworter. Nicht, weil es chic wäre, eine Riesenbaustelle à la Elbphilharmonie zu eröffnen. Nicht, weil München eben auch mal ein Prestigeobjekt benötigt, gerade nach dem legendären Transrapid-Freudentaumel. Vielmehr, weil Mariss Jansons zu Recht davon überzeugt ist, dass ein Klangkörper dieser Güteklasse einen Anspruch auf ein eigenes Haus haben sollte, in dem es verwurzelt ist und sich entwickeln kann.

Klein, rein steinern und zu eng: Der Herkulessaal der Münchner Residenz. ©casowi

Klein, rein steinern und zu eng: Der Herkulessaal der Münchner Residenz. ©casowi

Der Herkulessaal in der Münchner Residenz ist und bleibt ein Ausweichquartier für kleinere Abonnement-Reihen – akustisch ist er aber auch nicht auf der Höhe und wirtschaftlich dürfte trotz meist ausverkaufter Konzerte das Haus ein Desaster für die BRSO-Controller bedeuten. Ich mag den Saal, ich war ihn unendlich gewohnt – seit 1972, als mein Vater mich erstmals mit ins Philharmonische Abo nahm. Daneben gab es damals noch den hölzernen Kongresssaal im Deutschen Museum, der später jedoch (nach der Eröffnung des Gasteigs) einem dort untergebrachten imax-Kino weichen musste.
Nun einigte man sich im Frühjahr endlich auf einen Standort für den neuen Konzertsaal: das Werksviertel mitte auf dem ehemaligen Firmengelände der Pfanni-Werke, am Ostbahnhof.

Bebauungsplan und Modell für das neue Werksviertel. ©casowi

Bebauungsplan und Modell für das neue Werksviertel. ©casowi

Das Konzerthaus - ganz in Holz (zumindest im Modell) ©casowi

Das Konzerthaus – ganz in Holz (zumindest im Modell) ©casowi

Werksviertel heißt es, weil es mehrere „Werke“ alias Gebäude beherbergen wird – wie das frühere Kartoffel-Imperium eben auch. Was dabei zählt, ist Vielfalt. Neben dem klassischen Konzerthaus mit seinem großen und auch einem Kammermusiksaal soll es Locations für Rock- und Popkonzerte oder auch Kabarett geben, Galerien, Showrooms, Übungsräume, Lofts zum Wohnen oder Arbeiten, neue Wohnungen, Geschäfte, Restaurants  und jede Menge Grünanlagen. Für alle – seien sie nun jung oder alt, Anwohner oder Büroristen, Klassikfreaks oder Clubkonzertfans. Und unterschiedlichste gastronomische Angebote.
Die Schönheit der Vielfalt. ©casowi

Die Schönheit der Vielfalt. ©casowi

Der Turm des 30m hohen Kartoffelflocken-Silos (Pfanni wollte und konnte seinen Kunden so kontinuierliche Püree- und Knödelqualität auch über einen längeren Zeitraum hinweg gewährleisten) wurde schon vor einigen Jahren von der Kletter- und Boulderszene in Beschlag genommen. Und das soll auch so bleiben: Auf dem Turm wird ein vielstöckiges LongStay-4*plus-Hotel erbaut werden, dass einen optischen Höhepunkt markieren dürfte. Zu seinen Füßen wird es von einem Youth Hostel „unterstützt“. Eine gewagte, aber durchaus coole Mischung.
Von links: Das ehemalige Kartoffelflocken-Silo, Werk 3 und das ECK-Haus

Von links: Das ehemalige Kartoffelflocken-Silo, Werk 3 und das ECK-Haus. ©casowi

Heute wird im ehemaligen Silo geklettert und gebouldert.

Heute wird im ehemaligen Silo geklettert und gebouldert. ©casowi

Das Technikum diente Pfanni seinerzeit als Ideenwerkstatt und die TonHalle hatte als Kartoffellager wahrlich eine ruhigere Bestimmung als heute – jetzt kann man sich mit Veranstaltungen dort einmieten oder Konzerte besuchen. Und das heutige Kinderparadies mit aufregenden Röhrenkonstruktionen, Hüpfburg sowie einer Latte-Macchiato-Area für Mütter, Väter und weitere Kaffeebedürftige hatte früher eine rein technische Bestimmung.

Im Technikum wurde früher über Kartoffel-Produktinnovationen gegrübelt. ©casowi

Im Technikum wurde früher über Kartoffel-Produktinnovationen gegrübelt. ©casowi

"Durch diese hohle Röhre muss er/sie kommen!" - ein kindlicher Gedankengang. ©casowi

„Durch diese hohle Röhre muss er/sie kommen!“ – ein kindlicher Gedankengang. ©casowi

Am Eingang des Geländes, gegenüber des EckHauses an der Friedenstraße, entsteht zurzeit die erste Pop-Up-City Münchens, der EckPark – aus ausrangierten Containern. Schon jetzt sieht das nach einer herrlich chilligen und zugleich lebendigen Area aus – zumindest für Freunde des perfekt Unperfekten wie mich. Container werden kommen und wieder gehen und mit ihnen ihre Mieter, die Unterschiedlichstes anbieten werden. Vielleicht hat das auch ein bisschen Berlin- oder London-Feeling, aber wo gäbe es da schon einen Knödelplatz?
Im Werk 1 werkelt die bayerische Digitalszene schon eine Weile an neuen Apps und Portalen. Auch Werk 3 ist nahezu fertig gestellt: Im Erdgeschoss gibt es Ladengeschäfte wie den mich immer wieder sehr verlockenden Boesner Künstlerbedarf, ein Birkenwäldchen-Paradies für Kinderwagenbuggyaccessoiresallerlei und auch ein Design-Sofa-Wohlfühlgeschäft hat schon seine Pforten geöffnet. Darüber sind die Büroräume namhafter Kommunikations- und Eventagenturen sowie die sogenannte White Box, ein Atelier-Areal für Künstler, die sich dort zu subventionierten 7 Euro/qm zeitweise einmieten können, um ihre Werke zu schaffen oder/und auszustellen. Bei unserem Besuch gab’s Videoinstallationen rund um das Thema Fußball (logisch, Europa stand gerade vor seinem EM-Finale).
Bald lässt sich auch im obersten Stockwerk eine überaus chice Eventlocation mit spektakulärer Hebebühne (für Autos) nutzen – ich wünsche allen netten Mietern und Gästen schon jetzt dauerhaftes Wunderwetter. Denn: Es gibt Blick!
Es gibt Blick, Baby.! Auf München, Baby. Schimmerlos. ©casowi

Es gibt Blick, Baby.! Auf München, Baby. Schimmerlos. ©casowi

Werner Eckart ist der Enkel des Pfanni-Gründers und ein Mann, über den ich wohl auch noch mal gesondert auf meinem Strahlkraft-Blog berichten sollte: Er vermittelt tiefste Freude an seiner Arbeit, erläutert mit echter Leidenschaft seine Themen und Projekte, lässt uns (einen Teil der Freunde des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks, die Eckarts exklusive Samstagsführung sehr genießen) teilhaben an seinen Visionen, an seinen Werten, an seiner Liebe für das Miteinander von Menschen mit ihren unterschiedlichen Kulturbedürfnissen. Und dabei beschränkt sich Kultur bei ihm nicht auf die bildenden und tönenden Künste in ihren diversen Ausprägungsformen – spürbar wird auch seine Passion für unterschiedliche kulinarische Stilrichtungen und somit wird auch da für Vielfalt gesorgt sein. Eckart ist mutig, sucht und wagt Ungewöhnliches – das hat er mit dem Kunstpark Ost und der Kultfabrik schon mehrfach bewiesen.

Vier Generationen der Familie Eckart. ©casowi

Vier Generationen. Und schon damals strahlt Werner Eckart. ©casowi

München ist bunt. Und kann Tradition und Vision verbinden. ©casowi

München ist bunt. Und kann Tradition und Vision verbinden. ©casowi

Am Abend vor unserer BRSO-Freunde-Führung fand ein weiteres Erstprojekt statt: Auf dem Gelände beheimatete Graffiti-Künstler wie Loomit und HNRX sprayten zur live aus dem Herkulessaal übertragenen 7. Sinfonie von Anton Bruckner den Bauzaun des zukünftigen Konzerthauses (wie Eckart es nennt, denn für ihn ist es mehr als ein Saal). Messlatte für die Akustik des Konzertsaals sollte nach Eckarts Meinung übrigens die von allen Orchestern und Dirigenten geschätzte Suntory-Hall in Tokio sein. Gute Idee!

Bruckner meets Bauzaun! Ein Experiment mit Sprayern und dem BRSO. ©casowi

Bruckner meets Bauzaun! Ein Experiment mit Sprayern und dem BRSO. ©casowi

Anton Bruckner inspiriert posthum. ©casowi

Anton Bruckner inspiriert posthum. ©casowi

Und zugleich setzt Eckart auf Tradition und legt Wert darauf, Altes zu bewahren. So wird der alte Fabrikschlot erhalten bleiben und aktuell werden für den Kartoffelgarten (sic!) des EckParks auf dem Gelände Pflanztröge entworfen und gebaut, die auf den alten Werksschienen verschoben werden können. Mitgedacht kann eben auch sehr liebevoll sein. Wie schön, dass offensichtlich auch die Mitgesellschafter ähnlicher Meinung sind.
Standhaft: Der ehemalige Fabrikschlot. ©casowi

Standhaft: Der ehemalige Fabrikschlot. ©casowi

Hier werden Pflanzentröge nicht nur gebaut, sondern auch gleich getestet. ©casowi

Hier werden Pflanzentröge nicht nur gebaut, sondern auch gleich getestet. ©casowi

Auf dem weitläufigen Gelände gibt es unendlich viele Ecken und Winkel zu entdecken – und zu erhalten. Hoffentlich! Es wäre schade um so manches Detail.

Die unbestechliche Schönheit der Industriearchitektur. ©casowi

Die unbestechliche Schönheit der Industriearchitektur. ©casowi

Das vollkommen Unvollkommene. ©casowi

Das vollkommen Unvollkommene. ©casowi

Verborgene Künstler ... ©casowi

Verborgene Künstler … ©casowi

... und die unverborgenen Künstler des Werksviertels. ©casowi

… und die unverborgenen Künstler des Werksviertels. ©casowi

Wild und bunt. ©casowi

Wild und bunt. ©casowi

Oder eher dezent in einer Nische. ©casowi

Oder eher dezent in einer Nische. ©casowi

"Um Smarturbano em Munich". ©casowi

„Um Smarturbano em Munich“. ©casowi

Und ein wurstbegeisterter Lachs von Loomit. ©casowi

Und ein wurstbegeisterter Lachs von Loomit. ©casowi

Container Art. ©casowi

Container Art. ©casowi

Hoffen wir also auf wunderbare Architektenpläne, rasche und reibungslose, Genehmigungsverfahren, pünktlichen Baubeginn, rahmenfeste Kosten (vermutlich der frommste meiner Wünsche), beste Wetterbedingungen und damit auf die zügige Umsetzung aller Visionen. Damit Mariss Jansons im Herbst 2021 glücklich verkünden kann: „Ogspuit is!“

... and the music and the art and the people and the culture and the entertainment. ©casowi

… and the music and the art and the people and the culture and the entertainment. ©casowi

Being in Bavaria requires a lot of beer. ©casowi

… zu Richtfest und Eröffnung dürfte es reichlich fließen. ©casowi

Ich danke dem Organisationsteam der Freunde des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks für die Gelegenheit zu dieser wunderbar inspirierenden und verheißungsvollen Führung und Werner Eckart und seinem Team für die uns gewidmete samstägliche Traumwetter-Zeit.

 

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