Am vergangenen Samstag Abend saß ich Abo-bekartet wieder einmal im Münchner Gasteig. Auf dem Programm standen ein zeitgenössisches Kurzwerk eines ungarischen Komponisten, ein Klavierkonzert von Beethoven sowie eine Symphonie von Antonín Dvořák. Natürlich ging es mir in erster Linie um einen genussvollen musikalischen Abend in angenehmer Begleitung – nur diesmal kam ein lehrreicher Nebeneffekt hinzu. Nach der Pause.
Da stand Dvořáks Symphonie an. Ein schönes und für diesen Komponisten typisches Werk. Nicht wirklich atemberaubend, aber immerhin Wiederhörensfreude auslösend. Dachte ich. Bisher. Und musste erstaunt feststellen, das es diesmal recht anstrengend wurde. Denn der Dirigent führte nun durch, was offensichtlich seine große Passion ist: einen überaus blumigen Dirigier-Stil. So tänzelte und schwang er sich mehr oder minder anmutig von Note zu Note zu Note zu Note. Und Dvořák sparte in seinem Opus weder an Noten noch an musikalischen Motiven noch an der Besetzung oder gar an Tempi. Im Gegenteil: es lebt, es bebt, es quirlt sich durch das Orchester. Bunt und facettenreich. Und so tanzte und tanzte und tanzte der Dirigent und schwang Hüften und Arme und Beine und den Taktstock in alle Richtungen.
Irgendwann im dritten Satz passierte, was nicht wirklich dienlich ist: das Orchester verlor sich. Weil sein Dirigent leider vor lauter Getänzel und Freude an Dvoraks Notenvielfalt die Führung verlor. Chaos also – denn außer schnell ist’s einfach auch laut im Orchester-Tutti. Zu laut, als dass ein Geiger oder Cellist noch mitbekommen könnte, was in den Stimmen von Flöte oder Fagott gerade so passiert. Zuposaunt, zugepaukt, zugehörnert. Was folgte, war Verkrampfung. „Hey, simply do your job – you’re the conductor!“ oder auch „Bitte, lieber Gott, lass die Musiker gut drauf sein und wieder zusammenfinden!“ Diese Sätze gingen mir durch den Kopf, während sich die Finger verkrampften und Halt suchten in Stuhllehnen, die niemals angebracht wurden. Dass dieser Satz überschrieben ist mit „Scherzo – Furiant. Presto“ passte. Irgendwie.
Vor der Pause stand Beethovens 1. Klavierkonzert auf dem Programm. Schon da fiel mir trotz Sichtbeeinträchtigung durch den Flügel auf, dass der Dirigent sich gerne starker untermalender Bewegungen bediente. Schon da ein wenig übertrieben anmutend – vor allem für ein Beethoven-Stück. Bei Ravel, Debussy oder Strawinsky liegt rigides oder elegisches Gehopse sicherlich näher als bei den Klassikern. Und dennoch ging alles gut. Warum, wurde mir allerdings erst im Nachhinein klar: der Pianist nämlich wahrte die Klarheit der Tempi. Für alle. Durchgängig. Ich wunderte mich während seines (technisch wie musikalisch brillanten) Spiels zwar noch, warum vor meinem inneren Auge immer das Wort „Zuverlässigkeit“ über seinem Haupt schwebte. Eine Stunde später war es mir jedoch klar geworden: der Pianist war in die Führungposition gegangen. Was auch immer sein Beweggrund gewesen sein mag – er tat es und gab somit dem Stück die nötige Struktur. Mit einer sehr eigenen, klaren und guten Handschrift.
Es kann also durchaus gut gehen, wenn der „zweite Mann“ die Führung übernimmt. Und doch gilt: Es kann ziemlich in die Hose gehen, wenn der erste Mann seiner Führungsverantwortung nicht nachkommt, sondern sich in der Passion für die Einzelelemente verliert. Denn dann muss ein Team schon richtig gut aufeinander eingeschworen sein, um die eigentliche Aufgabe noch bewältigen zu können und ein passables Ergebnis zu präsentieren. Das gilt für Orchester wie für klassische Unternehmen.
Führung heißt Leitung. Und ein Dirigent ist nicht Teil eines Orchesters und kann fröhlich mit dessen Tun interagieren – er hat vielmehr den Takt und die Interpretationsrichtung des Stückes vorzugeben. Und als Zuhörer möchte ich entscheiden können, ob mir diese Interpretation zusagt oder nicht. Aber ich möchte nicht darum zittern müssen, ob Dirigent und Orchester ihre Jobs hinbekommen oder nicht.
Das Orchester bewies, dass es gut ist. Es fand sich wieder – und fing so auch den Dirigenten wieder ein.
Aber mit Verlaub: ein „Capo“ wird dafür engagiert und bezahlt, seine Führungsverantwortung wahr zu nehmen.
Sonst entstehen ungewollte Missklänge.
Und die will keiner hören.
Daher mein Appell an Führungsverantwortliche: werden Sie sich Ihrer Aufgabe und Verantwortung bewusst. Wachsen Sie hinein. Nehmen Sie sie an. Gerne mit Verve und mit großem Engagement. Aber vor allem immer in dem Wissen, dass Sie an der Spitze stehen und nicht Teil des Teams sind. In Ihren Händen liegt auch die Akkuratesse Ihrer Mitarbeiter. Tänzeln Sie also nicht kunstvoll herum, wo klare Führung vonnöten ist.
Denn auch Sie arbeiten sicherlich lieber auf „Bravo“-Rufe hin als auf „Buh“-Gebrüll.