(un)sinniges, Social Media
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Ein Foto, das verändern kann.

Es ist das Foto des dreijährigen ertrunkenen Jungen am Strand von Bodrum.
Ich zeige es hier nicht.
Ich habe es vor dem inneren Auge und ich bin mir sicher, so geht es vielen.

Selten habe ich meine Timeline bei Twitter und Facebook so gespalten und dabei so dezidiert in ihrem Urteil erlebt wie gestern, als das Foto verbreitet wurde.
Ja, ich kann beide Seiten verstehen: Diejenigen, die Bilder wie dieses nicht sehen wollen. Weil sie sie nicht ertragen − aus unterschiedlichen Beweggründen. Und ich verstehe auch jene, die davon überzeugt sind, dass ausschließlich Fotos wie das von Aylan Kurdi in der Lage sind, aufzurütteln, um den wahren Irrsinn der Lage begreifen zu können.
Dieser Auffassung bin ich auch.

Seit Monaten beobachten wir in mehr oder minder großer Seelenruhe aus den TV- oder Websesseln heraus, dass Menschen − vor allem aus Syrien − fliehen.
Und wie sie das tun.
Wir sind medial zu Gast in ihren Lagern, in ihren Essensausgabeschlangen, auf den Booten ihrer Schlepper und bei ihrer Ankunft auf den Mittelmeerinseln. Wir lesen und wir sehen.

Aber fühlen wir?
Können wir den Schmerz der Geflüchteten fühlen? Ihre Angst? Die Trauer? Hoffnung? Oder auch Hoffnungslosigkeit? Ihre Wut? Die Hilflosigkeit, Ohnmacht? Erschöpfung? Hunger und Durst? Auch so etwas wie das Kleben der seit Wochen getragenen Klamotten auf der verschwitzten Haut oder den Gestank oder Geräuschpegel in den Massenunterkünften? Das Fehlen jeglicher Privatsphäre?

1972 ging schon einmal ein schockierendes Foto eines vom Krieg betroffenen Kindes um die Welt. Es zeigt ein neunjähriges nacktes Mädchen in Vietnam, Phan Thi Kim Phúc ist ihr Name. Sie war auf der Flucht vor Napalmbomben. Das Foto steht für „Visual History“ wie bislang kaum ein anderes. Insbesondere alle, die heute Storytelling als kommunikative Notwendigkeit propagieren, sollten wissen, welche Kraft ein Bild wie dieses haben kann. Kim überlebte und gründete später eine Stiftung, die sich um kriegstraumatisierte Kinder kümmert. Das Foto mag noch heute umstritten sein, es hat sich auf alle Fälle vielen vielen Menschen tief ins Hirn und Herz eingebrannt. Und der Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg dürfte vermutlich immer noch bekannt sein.

Aktuell sind mehr als 51 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Genaue Zahlen und Infos zu den Herkunftsländern finden sich auf der Seite der Uno Flüchtlingshilfe. Etwa 50 Prozent sind jünger als 18 Jahre. Und da wollen wir nicht hinsehen? Oder meinen, nicht hinsehen zu können oder zu müssen? Oder wollen Menschen, die bei uns ankommen, nicht willkommen heißen? Sie vielleicht sogar umgehend wieder weiterschicken? Auch Kinder und Jugendliche, häufig unbegleitet? Ich fasse es nicht.

Zum Glück gibt es nicht nur die „Ja, aber“- und die „Nein, nie und schon gar nicht für Euch“-Fraktionen. Zum Glück gibt es auch hier Menschen, die einfach andere Menschen (ja: Menschen und nicht Religionsangehörige oder sonst wie Kategorisierte) in ihrer Not und Zuwendungsbedürftigkeit sehen und ihnen helfen. Unkompliziert und auch ein bisschen unkoordiniert. Sogar herrlich und wohltuend unkoordiniert! So ganz anders, als man es uns so unglaublich durchorganisierten Deutschen seit Jahrzehnten nachsagt. Und dabei so wirksam.

Die Bilder und Videos der vergangenen Tage aus Wien und aus München machen mir Hoffnung. Auf die Kultur des Willkommens und des Miteinander.
Dagegen stehen die Bilder und Berichte vom Budapester Bahnhof. Und die von den Schlepperbooten auf dem Mittelmeer.
Und das Foto des dreijährigen ertrunkenen Aylan Kurdi. Der nun vermutlich zum Stellvertreter wurde für bislang mehr als 2.500 Menschen, die im Mittelmeer ihr Leben verloren haben. Und für Zehntausende von Kindern, die in Syrien in den vergangenen Jahren gestorben sind. Im Krieg. Einem Krieg, der nicht auf einer Spielekonsole ausgetragen wird mit Highscores und Joystick und ’ner Dose Bier oder Cola neben den Chips. Einem Krieg, der alles zerstört, was wir unter Sicherheit subsumieren. Der nahezu eine Viertel Million Menschen seit 2011 das Leben gekostet hat. Ohne palliative Betreuung.

Möge Aylans Seele in Frieden ruhen.
Und möge uns das Bild seines Leichnams in aller Demut daran erinnern, dass wir hier in Deutschland Menschen sind, die nur das Glück haben, an zurzeit sicheren Orten in weitestgehend strukturierten Verhältnissen leben zu können. Und dass es uns eine Selbstverständlichkeit sein sollte, mit anderen zu teilen und sie willkommen zu heißen. Auch deshalb, weil ein dreijähriger Junge wie Aylan irgendwann vielleicht auch einmal Michael, Markus, Thomas, Sebastian, Stefan, Wolfgang oder Werner geheißen hat. Oder heißen könnte. Und wirklich dankbar wäre für menschliche Zuwendung, frische Kleidung, regelmäßiges Essen und Trinken und die Chance, sich bald eine Zukunft aufbauen zu können.

Danke an alle, die sich in den vergangenen Tagen engagiert haben oder aktuell engagieren, Geflüchtete hier willkommen zu heißen. Auch ich werde meinen Beitrag dazu leisten.
Und ich möchte auf ein paar Initiativen hinweisen, die mir am Herzen liegen:

  • #BloggerFuerFluechtlinge bietet Möglichkeiten für Sach- und Geldspenden sowie viele Anregungen und Meinungen über Blogposts.
  • Der Bayerische Jugendring hat das Projekt Flüchtlinge werden Freunde ins Leben gerufen. Dort gibt es Austausch und Anregungen aus der und für die Jugendarbeit mit Geflüchteten.
  • Die Facebookgruppe Hilfe für Flüchtlinge in München bietet stets aktualisierte Übersichten und Hinweise zu benötigten Helfer/-innen und Hilfsgütern.

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