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Die Lagune. Einfach mal ausatmen.

Früher fiel es mir nicht so auf. Vielleicht war das Bild einer Lagune, insbesondere derer rund um Venedig, einfach zu geläufig für mich. Nichts besonderes. Ja, wirklich nichts besonderes − langweilig, eintönig sogar. Diesmal war es anders. Stille. Schönheit. Geborgenheit. Ruhe. Dankbarkeit. Und sogar Demut spüre ich. Unser Tourguide von Atlantide ist Biologe und führt uns durch die Pialassa Baiona, eine gut 11 ha große Brackwasserlagune nahe des oberitalienischen Städtchens Ravenna. Brackwasser − das klingt immer so nach schmutzig, dreckig, irgendwie bäh. Falsch: Brackwasser nennt man schlicht und ergreifend die Zonen, in denen Salz- und Süßwasser sich vermengen. Für viele Fische und Vogelarten ein Paradies, für manche Pflanzen ein harter Kampf ums Überleben, da die Salzkonzentration sich gemäß der Gezeiten entsprechend verschiebt. Unser Boot gleitet zunächst an kleinen Fischhütten vorbei, die meist auf Stelzen gebaut sind. Vor ihnen werden große, quadratische Fangnetze ins Wasser gelassen, in deren Mitte ein Loch ist, durch das der Fang in einen Behälter aufgenommen werden kann. Die Lizenzen für die Hütten und Netze sind teuer, daher teilen sich meist mehrere Familien deren Benutzung an den unterschiedlichen Wochentagen. Montagsfischer kann man hier also recht leicht werden. Je nach Tageszeit und Gezeitenstand besteht der Fang manchmal nur aus ein paar kleinen Krabben, die dann den Rückzug ins Wasser antreten dürfen.

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Netz Wer seinem Netz nicht alleine die Verantwortung für den Fang anvertrauen will, geht auch selbst ins Wasser und fischt tatsächlich mit den Händen. Beeindruckend. PiaFisch Je weiter wir in die Lagune hineinfahren, desto größer wird die Ruhe in mir. Die Bilder legen sich mir zart wie Wasserzeichen um die Seele. Laguna1

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Wir beobachten und hören Störche, Reiher, Cavalieri d’Italia, unzählige Möwenarten und sogar Flamingos. Mir fallen Worte wie „beschaulich“, „friedvoll“ und „behutsam“ wieder ein. VogiPia

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Ein kurzer Landgang bringt uns in die Pineta di San Vitale, deren zum Teil mehrere hundert Jahre alten Pinien schützend ein dichtes Dach über andere Pflanzenarten wie auch Beeren und wilde Orchideen spannen. Auf dem Weg dorthin fällt der Blick durch Tamarisken auf das Wasser. DSC01309 - Arbeitskopie 2 Auf der Rückfahrt zum Bootsanlegeplatz rückt jedoch abrupt und erbarmungslos  wieder ins Visier, was gerade noch hinter uns beinahe in Vergessenheit geriet: Ein Horizont voller Industriebauten. Die petrochemische Industrie treibt hier seit Jahrzehnten ihr unübersehbares Unwesen. Seit einem Besuch in Milwaukee/Wisconsin hat sich mir die mögliche Schönheit von Industriebauten zwar durchaus eröffnet − heute jedoch verursacht der Anblick der Stahlkolosse nur tiefes Unbehagen, Entsetzen, Abscheu. Was zum Teufel denken sich Industriebosse, Politiker, Architekten, Statier eigentlich in Fällen wie diesem? Nichts − die Frage ist natürlich redundant. PiaInd

PiaInd2 Ich will wissen, welche Veränderungen die Biologen hier über die Jahre hinweg messbar wahrnehmen können − vor meinem wütenden und zugleich besorgten inneren Auge spielt sich eine massive Zunahme der Schwermetallwerte in Fischen ab. Es würden hier regelmäßig Proben genommen werden, höre ich − sie seien in Ordnung. Natürlich seien die Böden auf dem Gelände massiv verseucht, sogar so sehr, dass dort keine Bohrungen zur Materialentnahme gewagt werden, um zu vermeiden, den ganzen Dreck wieder an die Oberfläche zu holen. Suche ich heute nach dem Thema, so fällt sofort eine wissenschaftliche Studie zu erhöhten Quecksilberkonzentrationen in Muscheln auf. Andererseits erfahre ich, dass sich in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche neue Tierarten in dieser Region angesiedelt haben. Keiner meiner Gastgeber und Begleiter dürfte für diese Umweltsünden verantwortlich zu machen sein − es sind irgendwelche skrupellosen Industriemagnaten und Politiker, die zur Rechenschaft zu ziehen wären. Vermutlich gab es längst Prozesse, vielleicht auch Verurteilungen. Aber es ändert nichts an der Frage, wann denn nun endlich mal verstanden wird, dass wir so definitiv nicht mit unserer Umwelt umgehen können. Hier gibt es ein kleines Paradies − an vielen anderen Orten ebenfalls! Es gilt, diese Orte zu hegen, zu pflegen, sorgsam mit ihnen umzugehen! Und jeder jeder jeder Mensch sollte doch am Ende eines jeden Tages in den Spiegel blicken und seinem eigenen Anblick stand halten können. Ruhigen Gewissens. Zumindest ist das meine Maxime. Der Anblick der Schlote, Eisenkonstruktionen und Hallen hat mir die Ruhe und Gelassenheit wieder genommen. Hinzugekommen sind Wut und Ohnmacht. Was bleibt, sind Sehnsucht und Hoffnung. Es mag schrecklich kitschig und auch realitätsfremd klingen, aber ich brauche Momente purer Idylle wie in der Pialassa Baiona. Und damit bin ich doch sicherlich nicht alleine.

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Ich danke der Initiative #DiRavenna für die Einladung nach Ravenna und seine Umgebung.

2 Kommentare

  1. Hochinteressant! Wunderschöne Fotos!
    Danke, dass du mich auf diesen Artikel aufmerksam gemacht hast
    Beste Grüße
    Ulrike

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