(un)sinniges, Kino, Kommunikation, Konzert, kultur, Kunst, Musik
Kommentar 1

Vom Bruttokulturprodukt. Eine Geburtstagsfeier anderer Art.

Ich hatte das, was der Bayer „Boin“ nennt.
Keine wirklich Angst, eher eine Kombination aus Respekt vor etwas und Befürchtungen.
„Boin“ also davor, dass an diesem Abend der sich gerade bildende Schorf über der sich langsam schließenden Wunde abgeknubbelt werden würde.
Und es wieder näßen und bluten könnte.
Heute.
An seinem Geburtstag.
Und nur zehn Wochen nach seinem Tod.

Ich fand es auch ein bisschen überflüssig.
Mit 86 darf man sterben.
Einfach tot sein.
Natürlich mit Erinnerungen behaftet werden.
Mit Lachen und auch mal mit Tränchen.
Aber eben tot sein.

Und dann wurde alles ganz anders.
Aus einer geplanten Stunde im Münchner Künstlerhaus wurden über zwei.
Mit Reden vieler Wegbegleiter, die humorvoll beleuchteten, wieviel Neugierde, Mut, Chuzpe, Vision und Tatkraft er besessen hatte.
Und was alles er damit auf die Beine gestellt hat.
Er: Kurt Wilhelm.
Autor und Regisseur.
Und mein Onkel.

Der Kulturreferent von München sprach vom Wert seiner Arbeiten für München und Bayern und die Ehre, nun seinen künstlerischen Nachlass in der Monacensia begrüßen zu dürfen.

Sigmund Gottlieb berichtete von den Nachkriegs-Anfängen des Bayerischen Rundfunks (zunächst Radio München), die Kurt maßgeblich geprägt hat mit Hörspielen, Informations- und Unterhaltungssendungen, bis er schließlich nach Freimann wechselte, um dort später sogar zum Leiter der Abteilung Unterhaltung und Musik zu werden.

Turmschreiber Helmut Zöpfl ließ uns in die frühe Radiowelt mit den „Brummelgeschichten“ eintauchen, die echte Straßenfeger waren und in denen Liesl Karlstadt nach dem Tode Valentins ihre Karriere fortsetzte.

Mein Vater, Kurts jüngerer Bruder, entführte uns in den traurig-tröstlichen Abschiedsteil des Hörspiels „Ich denke oft an Piroschka“, dessen immenser Erfolg schließlich erst zur Verfilmung des Stoffes mit Lilo Pulver führte.

Der einfach vertraute Richard Strauss-Enkel Christian würdigte nicht nur liebevoll die Freundschaft beider Familien, die ihren Ursprung in Dresden hatte, als der junge Richard Strauss beim Hofoper-Solo-Cellisten Böckmann wohnte, dem Großvater von Kurt und Rolf – er erzählte auch von den langen Monaten in Garmisch, die Kurt für die Recherchen im Strauss’schen Privatarchiv verbrachte, um schließlich ein sehr umfassendes, aber persönliches Buch über Richard Strauss zu schreiben.

Dann Professor Krüger aus dem Vorstand der Richard-Strauss-Gesellschaft, der von der einzigartigen, wirklich unwiederholbaren Reihe „Liederwerkstatt“ mit Wolfgang Sawallisch, Kurt und vielen Top-Sängern dieser Welt berichtete. Abende, an denen alle Strauss’schen Lieder erklangen – und erklärt wurden.

Michael Lerchenberg las aus dem Buch rund um die Entstehung und Inszenierungen des Kurt’schen Meisterwerks „Der Brandner Kaspar und das ewig Leben“ vor – hinreißend komische Ereignisse seiner Kooperations-Dramatik mit Intendant Kurt Meisel Mitte der 70er Jahre am Staatsschauspiel München.

Der ehemalige Kulturchef des BR verlas ein Epitaph des verhinderten Herbert Rosendorfer und ergänzte um eigene Erzählungen aus zwanzig gemeinsamen Jahren bei den Turmschreibern, einer süddeutschen Literatenvereinigung.

BR-Urgestein Peter Grassinger, als Ehrenpräsident des Künstlerhauses auch Gastgeber dieses Abends, zeigte Filmausschnitte aus den berühmt-berüchtigten Playback-Opern, aus „Vater Seidl und sein Sohn“ mit Walter Sedlmayr und natürlich eine Himmelsszene aus der TV-Fassung des Brandner Kaspar, die auf der Bühnenversion basierte, die allein im Residenztheater über 900 Mal aufgeführt wurde.

Den Abend krönte Heino Hallhuber – der impersonifizierte Erzengel Michael im Brandner  – mit seinen perfekt persiflierenden Erinnerungen an Kollegen und Begebenheiten auf der Bühne, während und im Umfeld der 900 Vorstellungen im Resi.

Der Vorsitzende der Bayerischen Volksstiftung, Florian Besold, der neben Peter Grassinger den Abend moderierte, zitierte zu Beginn Kurts Gedanken zum „Bruttokulturprodukt“ eines Landes. Es setze sich zusammen aus der Kunst, Musik, Literatur und Architektur eines Landes.
Ja, Kurt – ein wichtiger Wert.
Der leider nur allzu oft ins Hintertreffen gerät.
Oder Verwechslung erfährt mit volkstümelnder Kulturverstümmelung.

Was wurde nun aus meinen „Boin“?
Sie mutierten komplett.
Ja, da gab es Tränchen, die mir offen über die Backen liefen.
Ja, da gab es Momente, in denen ich mit der Fassung ringen musste – als Kurt zu hören oder gar zu sehen war. Das sind dann diese kleinen und gemeinen Emotions-Tsunamis, die einen eiskalt erwischen.

Aber da war plötzlich auch jede Menge Stolz auf ihn.
Auf seinen Mut, seine Neugierde, seine Überzeugung, seine Durchsetzungskraft – auf das Tun statt des Redens.

Und Freude und eine andere Form von Stolz gesellten sich dazu.
Auf das Bewusstsein, dass da wohl doch eine genetische Prädisposition zum „des mach ma jetzt einfach – weil’s richtig ist“ gegeben ist.
Auch, wenn’s erstmal keiner glauben mag.
Auch, weil’s manchmal so nebendran liegt, dass es vielleicht zunächst Mal kaum einer sehen mag. Oder kann.
Aber weil die Intuition klar und deutlich spricht: „Geh den Weg. Trau Dich. Es lohnt sich immer, einen neuen Pfad zu beschreiten und zu erkunden.“
Ein kleiner, aber wirksamer Rückenaufrichter und Mutmacher, also.
Mach’s also einfach, Catharina – wenn Du davon überzeugt bist.

Dafür ein herzliches Dankeschön, lieber Kurt.
Und für’s Bruttokulturprodukt.

8. März 1923 – 25. Dezember 2009

1 Kommentar

  1. Anatol Locker sagt

    Schöner kann man’s nicht zusammenfassen. Danke!

Schreibe eine Antwort zu Anatol LockerAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.